Liebe Buchfreundin, lieber Buchfreund,
der erste Abschnitt einer außergewöhnlichen und so nicht vorstellbar gewesenen Reise neigt sich seinem Ende. Er führte mich zu unerwarteten Erfolgen und ich möchte mich an diesem Punkt bei allen bedanken, die mir halfen, helfen, die sich für meine Bücher interessieren. Von meinem 2016 erschienenen Erstling »EROSION. Spuren der Industriekultur im Finowtal« habe ich die letzten zehn von 444 Exemplaren im Lager. Es ist ein wunderbares Gefühl etwas gemacht zu haben, von dem so viele Menschen mitteilten, dass sie es gern in ihrem Besitz haben möchten. Um mein zweites Buch und Lebenswerk über Irland bekannt zu machen habe ich 2018 die Brandenburgische Buchmesse ins Leben gerufen. Auch sie erwies sich vor allem in Anbetracht der Tatsache, dass sie aus reinem Willen und nicht mit Fördermiteln entstand, als Erfolg. Von ihr ausgehend hat sich ein Netzwerk spannender Büchermacher gesponnen, die ich als große Bereicherung entdeckt habe. Mit den Buchfenstern Brandenburg haben wir unser Netzwerk inzwischen auch zum Handel erfolgreich geöffnet.
Im vergangenen Jahr fiel mir dann das große Glück des Gewinns des Brandenburgischen Kunstpreises in Fotografie zu, der auch die Inhalte meiner Bücher reflektierte, die ich bisher der Kategorie Erzählbildbände zuordne. Und erst kürzlich hat ein kleines Bildbändchen mit Fotos der renommierten Fotografin Renée Jacobs (New York/Paris), das ich für die Edition Galerie Vevais produzierte, in Paris den International Photography Award in der Kategorie »Professional Book, Fine Art« erhalten. Wie gesagt, alles Stationen, die man weder planen noch erwarten kann.
Das Manuskript meines vierten Buches ist fertiggestellt. Es wird sich von meinen bisherigen Büchern grundsätzlich unterscheiden. Als ich die Arbeit daran begann, konnte ich nicht ahnen, wie sehr es noch einmal notwendig werden würde, die Menschen der Gegenwart daran zu erinnern, was Militär und Krieg bedeuten, welches unvorstellbare Ausmaß an Elend sie den Bewohnern des vergangenen Jahrhunderts brachten. Bedauerlicherweise scheint es in der Gegenwart so, als sei das Wissen um die Geschichte des Jahrhunderts der toten Welten, in denen unsere Eltern und Großeltern noch Figuren waren, trotz der Eindringlichkeit in den Büchern von Remarque, Fallada, Anna Seghers oder Stefan Heym verloren gegangen. Und wenn nicht das Wissen darüber, so auf jeden Fall das Empfinden dafür. Lassen Sie uns deshalb hoffen, dass diejenigen, die dafür gewählt werden, vernünftig zu entscheiden, endlich zur Vernunft kommen, und das sie anstatt Waffen produzieren und sprechen zu lassen, miteinander in Dialog treten, um eine Rückkehr zu Verhältnissen zu ermöglichen, in denen der Mensch im Mittelpunkt steht.
Zuletzt möchte ich nicht versäumen, Sie zu meiner nächsten Ausstellung einzuladen, die vom 30. Oktober 2022 an in der Eberswalder Galerie Fenster für einige Wochen als Spiegel meiner Bücher »EROSION« die Geschichte des Märkischen Wuppertals in Fotos und Fundstücken illustrieren wird.
Mit besten Grüßen, Hans Jörg Rafalski
Wie erzählt man von der Geschichte eines Wasserlaufs? Jener der ältesten, noch betriebenen künstlichen Wasserstraße Deutschlands, um genau zu sein. Ihrer Zeit oder ihrem Raum folgend? Der Lesegewohnheit nach von links, also mit ihrem Wasserstrom von Westen, oder mit dem gewesenen Rohstoffstrom von Osten? Die Übergabe des ersten Finowkanals an die Schiffahrt jährt sich 2020 zum 400. Mal und das ist in jedem Fall ein Anlaß, sich ihm wieder zu nähern, wie ihn nicht jede Generation in ihrer Zeit zum Geschenk erhält. Das neue Buch von Hans Jörg Rafalski knüpft an seinen erfolgreichen Erstling „Erosion. Spuren der Industriekultur im Finowtal“ von 2016 an. Gedacht als Momentaufnahme des Vergehens und als Erinnerungsstück an das Jubiläum haben die Umstände der Zeit das Buch nun aber vielmehr zu einem Erinnerungsstück an einen historischen Augenblick und eine historische Chance werden lassen, die lautlos an uns vorüberzog. Wie symptomatisch für die jederzeit unbestimmte Haltung der Finowtaler zu ihrem Kanal verfiel nun auch das Geschenk dieser großen Chance für den Beginn von etwas Neuem. Was die Ereignisse des Jahres 2020 aber sichtbar gemacht haben, ist die große Lust der Menschen, ihre Region haptisch in Besitz zu nehmen, also mit dem Rad oder zu Fuß. Der Finowkanal bildet das Urmotiv aller Entwicklung in seinem Tal, und dessen Bewohner haben in diesem Jahr gezeigt, wie groß noch immer sein Potential ist, unserer Region Impulse für eine Perspektive zu bieten, wenn man ihn als Immobilie denkt und wirtschaftlich entwickelt. Was wir in diesem Jahr erleben, hat ja auch und vielleicht sogar zuerst mit dem Erreichen von Grenzen quantitativer Entwicklung, jenes so hoch gepriesenen Wirtschaftswachstums, wie mit dem Versagen gesellschaftlicher Systeme zu tun, die den Menschen in Entwicklungen einbinden, ihn mitnehmen, aber auch vor unbequemen Konsequenzen schützen sollen. Wir schreiten alle zusammen in etwas kaum denkbar großes Offenes, das uns in seiner Unabsehbarkeit nun regelmäßig das Fürchten lehrt. Dem Erreichen unserer Grenzen dieses Jahres, dem sich dahinschleppenden Scheitern dieser Gesellschaft, steht hier lokal jedoch eine Alternative entgegen, eine Chance, aus einem ungenutzt daliegenden Kanal Chancen zu formulieren, Neues zu denken und zu entwickeln. Qualitatives Wachstum könnte jetzt das quantitative ablösen, indem man hochwertige, auf den Menschen und nicht auf das Fahrzeug oder auf flüchtige finanzielle Gewinne orientierte Lebensräume entwickelt, indem man die Ausbildung touristischer und Naherholungsstrukturen befördert, neue Wohn- und Lebensformen ermöglicht, indem man regenerative Energien erntet, indem politische und ökonomische Entscheidungen den Menschen zurück in den Mittelpunkt rücken, man das Gegeneinander eines falsch verstandenen Demokratiebegriffs auf den Ebenen der politischen Wahrheitssuche aufhebt. Wir könnten, will ich sagen und würde es eigentlich gerne herausbrüllen. WIR KÖNNEN ES. Nur nicht auf dem eingeschlagenen Weg zurück in die soeben gescheiterte Vergangenheit, indem man den Mehrwertsteuersatz reduziert, um alle Menschen so schnell wie möglich wieder an ihren angestammten Platz der gewohnten Konsumkreisläufe festzunageln. Neues entsteht erst aus neuem Denken, neuem Miteinander. Die Fortsetzung der Betrachtung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft des Finowtals von Hans Jörg Rafalski ist vor allem dazu gedacht, die Bedeutung des Finowkanals für seine Region zu würdigen.
Einige Fotos der Bildserie des Buches standen im Endausscheid um den 17. Brandenburgischen Kunstpreis 2020 und sind bis zum 30. August 2020 in der Ausstellung im Schloß Neuhardenberg zu sehen. Die Auflage ist auf 222 Exemplare limitiert und jedes Exemplar wird laufend nummeriert.
Erzählbildband, hälftig mit Text- und Bildseiten | Fadengeheftet und broschiert mit 48 Seiten im Format 31,7 x 23,7 cm | Einzelpreis: 29 Euro (kann im Handel abweichen) | Zum Bestellformular
Die Nummer 2 bei Papierwerken beruht auf Reisen von Hans Jörg Rafalski nach Irland, unternommen zwischen 1992 und 2017. Reisen, die viele Gegenden der Grünen Insel berührten und sich zu einer Entdeckungstour in Land und Kultur verbanden. Doch diesem Buch widerfuhr Eigenartiges, und vielleicht mußte es auch so kommen, denn die Iren bestehen ja darauf, genau so zu sein, also eigenartig? Dieses Irland unternahm zugleich selbst die erstaunlichste Reise, ja eine Metamorphose, und die Entdeckungstour des Autors entwickelte sich so auch zu einer außergewöhnlichen Reise mit der Zeit. Einer Zeitreise gewissermaßen. In dem Maße, in dem er in Land und Kultur vordrang, unterlag dieses Irland nämlich der vehementesten Veränderung in der Geschichte, möglicherweise der umfassendsten Überwerfung einer Gesellschaft in einem so kurzen Zeitraum überhaupt. Nichts ist so mächtig wie eine Idee, deren Zeit gekommen ist, formulierte Victor Hugo einmal, und in diesem Sinne vollführte die irische Gesellschaft binnen weniger Jahre einen Sprung aus einer in Europa längst überwundenen Vergangenheit bis in den Hedonismus. Überholten Europa ohne es dabei überhaupt eingeholt zu haben – im wahrsten Sinne des Wortes. Von der Agrar- zur Informationsgesellschaft, vom Milchbauern zum Chipentwickler in nur einer Generation, deuteten Feuilletonisten überschwenglich. Der Autor wurde auf seinen Reisen somit zum einen Zeuge des Sterbens des traditionellen, unbewegten Irlands und zum anderen der Geburt eines beschleunigten Irlands, das für die Zukunft ist. Er war dabei, als Geschichte gemacht wurde. Insofern reflektiert dieses Buch zwei parallel verlaufende Prozesse: den äußeren der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Verwandlung der irischen Gesellschaft und die innere Entwicklung des Autors, in deren Verlauf er die kennen- und immer besser verstehen lernte. Dieses Buch ist dazu gedacht, jene fünfundzwanzig Jahre nachzuempfinden und Neugierige auf eine Entdeckungsreise mitzunehmen.
Hardcover mit 272 Seiten im Format 31,7 x 23,0 cm | Erzählbildband, hälftig mit Text- und Bildseiten
Kurztitel: Irland | ISBN 978-3-00-058963-8 | Einzelpreis: 45 Euro | Zum Bestellformular
Die teuflisch-rot lackierten Gartenstühle ächzen – zwei Damen im besten Alter posieren an Tischen vor der Roadside Tavern, führen ihre Zigaretten zur Darstellung von Eleganz und demonstrieren Genuß an einem Augenblick, für den der Wind die Verkettung der Regenwolken einmal aufgebrochen hat. Balzen, halten Ausschau und haben sich ja selbst zur Beschau aufgebaut wie auf einem Jahrmarkt unter abgelegten Treckern, Häckslern und Zisternen, die den Eingang der Bar zieren. Die erwarten das Defilé der Werber, Trecker, Häcksler und Zisternen wie die Damen. Es ist früher Abend, die Kandidaten halten sich noch rar, jene Disteln auf der Suche nach roter Rose unter altrosa Nelken. Aus dem Gastraum tönt da der regionale Barde auf: dissonant, aber aus vollem Halse. Larry Molloy legt heute den Gästen hier sein jüngstes Werk ans Herz, wie ein Plakat lesen läßt: »Memories of Lisdoonvarna«. An welchen Tag sonst sollten sie Erinnerung bewahren wollen, wenn nicht an jenen, an dem sie die große Liebe zu finden hoffen?
Peter Curtin's Roadside Tavern kauert wie ein Lebewesen gleich bei der Straße. Eingerollt verkrochen in seiner Höhle; die Fenster flackern ihm wie Augen, die tief ins Gemäuer eingezogen sind, sich vor den Peitschen der wiederkehrenden Regen-stürme schirmend. Seit 1865 bewirte man an diesem Ort, wird über dem Eingang angegeben, und das man soeben 100 Jahre zufriedener Kundschaft feiere. Nicht nur die Regeln der Zeit sind hier im Westen also außer Kraft, die der Mathematik offensichtlich ebenso, läßt sich so erfahren. Gekrümmter Raum womöglich, den ich hier betrete, beziehungsweise ganz besonders gekrümmter Raum. Gekrümmt hinter der Wandung eines Glases Porter. Bin der Neuankömmling und somit frei, um mit fragenden Blicken aus der Dämmerung durchbohrt zu werden. Das schwermütige Schweigen im Saal läßt von dem allgemeinen Bemühen hören, meine Mundart als Erkennungsmelodie für Herkunft zu enträtseln. Im Kamin heult gefangener Wind; von alt(rosa) gewordenen Wänden starrt an Geschichten klammernder Sammlerkram. Wie die Bars hier eben so sind, kleine Häfen des Widerstands – des Widerstands gegen den Geist der Zeit ganz allgemein und die Beschleunigung, die jene aufgenommen hat. Der Barmann, ein junger Schlaks von zwei, drei Metern Höhe, spart ob dieses Umstands nicht mit der Darstellung von Stolz. Die Mentalität erweist sich stärker als der Zeitgeist, hier, weit im Westen. Die innere Kluft Irlands zwischen Ost und West, so wie sie immer galt: von der schnellsten Hauptstadt Europas in ein Land, unberührt von Zeit. Mein Entdeckertum genießend, als wär ich Schliemann, mutmaße ich, an diesen Ort habe sich Irland zurückgezogen, das originäre: die miesen Fish Sandwiches, das gute Guinness, der ungewohnte Smalltalk, Larry Molloy, der Bewahrer traditionellen Liedguts.
An jedem gewöhnlichen Abend ist die Zeit hier wohl verdammt, ihren Weg von vorn zu beginnen, zurückgebracht in ihren Ursprung wie das Maß eines Stundenglases. Jetzt ist September und die Abende sind keine gewöhnlichen. Es ist die Zeit des »Matchmaking«, jene Jahreszeit, die die Kargheit des Lebens im Burren zäsiert. Ist die Ernte eingebracht und das Vieh zurück im Stall, entdecken Männer eine Leere in ihren Häusern und in sich, wird erzählt. Dann gehen sie auf Suche. Mit polierten Karossen warten sie auf, auch auf Traktoren und Lastfahrzeugen, auf allem, was bei der Brautschau dienlich sein könnte. Einsame Herzen vom Lande in leicht entzündlichen Wolken aus Eau de Toilette, Whiskey, Marlboro und Dung. Paradieren, unbedarft zurechtgemacht, in Vaters grauem, stets gut gewesenem Flanellanzug vor Wirtshäusern und Hotels. Rauhe Romantik in Gummistiefeln zwischen brüllenden Kälbern und hupenden Autos. Nehmen von Zeit zu Zeit noch einen guten Schluck aus der Flasche, die sie im Blazer verborgen halten, und überschauen die Anreise der Damen älterer Semester aus den Nachbarorten und sogar aus Cork mit jener Sorgfalt, mit welcher sie für gewöhnlich die Rückkehr der Herden in den heimatlichen Hof aufnehmen. Die Damen ihrerseits zerren enerviert kommodenhafte Koffer mit der Staffierung für einen großen Auftritt im Ballsaal zu den Portalen der Landhotels herein. Die sind nun auch nicht mehr die Jüngsten, Eintagsfliegen, die sich eingestehen müssen, daß es spät geworden ist, sich um so mehr jedoch danach verzehren, noch einmal der farbenfrohe Schmetterling zu sein.
Nicht wenige Iren sind überzeugt, groß im Fach des Romantischen zu sein. Vielleicht läßt sich das ergründen? Die Williams' betreten den Gastraum: Willie, 82 und weitestgehend taub, Toddy, 47, Sohn und schnaubender Quell einer wohl einstudierten, nasalen, schleimbetonenden Kulisse. Bodenständig, an den Tageslauf des Viehs gefesselt, derb und verschlossen erfüllen viele Männer die über sie bekannten Klischees heute noch nach Kräften. Den älteren Semestern auf dem Lande bieten sich geringe Möglichkeiten, ihr Glück zu finden. Da erdachten Händler, die die Höfe bereisten und um die Menschen und ihre Nöte der Einsamkeit wußten, dieses Festival. Manch einer meint, die Hälfte derer hier wäre gar nicht, ohne die Qualifikation des Festivals im Fach der Eheanbahnung, dem Matchmaking. Das Leben auf dem Land ist bis heute rauh geblieben, einsam, hart und oft gering an Eintrag. Der katholische Bauer, bei Joyce das Rückgrat Irlands, gehört infolge selbst hier nun einer sterbenden Spezies an. Toddy, weiterhin an einem herausragenden Kanon nasaler Klangfarben unter den Gästen mühelos zu detektieren, und Willie, der von alledem nichts ahnt, plazieren sich wortlos in Erwartung eines guten Guinness in einer holzgetäfelten Nische mit altrosa Polstern. Guinness, so glaubt man hier, sei nicht allein »good for you«, good for everybody, es sei ebenso ein gutes Aphro-disiakum. Nicht der geringste Grund, ein, zwei Pinten zu ordern, um die Füße so leicht zu bekommen wie dieser Michael Flatley. Lisdoonvarna hat nicht allein einen Namen für seine 150 Jahre Matchmaking Festival, gleichwohl dafür, Irlands einziges Heilbad zu sein: Wasser mit Eisen und Schwefel für die Gelenke also und Wasser mit Gerste, Hopfen und Hefe für die Seele. Der besten Braugerste der Welt freilich. Gerste, wie die so nur in Irland zu finden ist; Hopfen, wunderbarem, aromatischem, irischem Hopfen, wie den Flann O'Briens Shawn Kilshaughraun bezeichnen würde, und Hefe von der ursprünglichen Guinness-Hefe von 1759, von der in einem Safe in Dublin eine Probe für die Ewigkeit aufbewahrt sein soll. Andererseits weckt Lisdoonvarna den Eindruck, einer jener irischen Orte zu sein, über die es heißt, daß Buchläden schließen müßten, weil nichts anderes als Romane von Danielle Steele und Bücher über die Behandlung von Arthritis gingen. Von den Damen auf den roten Gartenstühlen noch keine Spur. Gute Kunde dringt jedoch herein: weitere Autobusse, angefüllt mit Glauben, Hoff-nung und einsamen Frauen seien in Lisdoonvarna eingetroffen, einer randvoll mit philippinischen Damen, ganz frisch vom Shannon Airport – Toddy rollt die Augen und schnaubt dazu ungalant, Willies Hörgerät scheint weiter offline und der selbst bleibt am Geschehen teilnahmslos. Weihnachten lauert bereits hinter der nächsten Ecke. So ein Weihnachten mit kaltem Winterregen, Torf und Whiskey, Linsensuppe und RTÉ 2. Weihnachten bis Februar. Die Gaelic Football-Saison kommt mit dem Frühling. Clare scheidet gewöhnlich in der Vorrunde aus. Ein guter Grund für Whiskey und Guinness. Das Vieh muß auf die Weide, die Schafe geschoren werden, auf RTÉ 2 beginnt die Zeit der Wiederholungen. Die Touristen kommen, erzählen denen hier, wie einzigartig ihr Leben sei und daß es um jeden Preis vor dem Eindringen des Materialismus bewahrt bleiben müsse. Sind die fort, ist es Oktober und wieder Weihnachten. So ein Weihnachten mit kaltem Winterregen, Torf und Whiskey, Linsensuppe und RTÉ 2. Und das bis Februar. Philippinische Frauen, was? Gut! Im Herd muß Feuer gemacht werden, Essen gekocht, Wäsche gewaschen. Das gute Guinness trifft ein. Toddy schluckt geräuschvoll, Genuß oder Genußlosigkeit ausdrückend.
Die beiden Damen, jene von den teuflisch-rot lackierten Stühlen, treffen ein, beziehen Position in der Saalmitte wie zu einer Viehauktion und schauen sich unverbindlich um. Stellen ihren Duft in den Raum. Was ist es denn? Rosen? Süß und billig? Wollen immer betören, Schwerkräfte bei Joyce, und die Männer zucken wie Kompaßnadeln. Wenns zu spät ist, dann sind die plötzlich Carnivoren. Und der Mann Insekt. Toddy: die Fliege. Klebt und zappelt schon. Der sammelt behend das seiner Hosentasche entrollte, olivgraue Knäuel von seiner Bank, rückt das Stecktaschentuch zurecht und bietet mit einem Wink sowie unter Zustandebringen einer unechten Miene den Platz zu seiner Linken. Da die beiden Toddys Blick kreuzen, zupfen sie geziert an ihren Kleidern in dem gestellten Bemühen, diese frisch zu straffen, und tun ein wenig Ungläubigkeit in ihren Ausdruck, ob der unliebsamen Entdeckung, Ziel dessen Ansinnens zu sein. Nehmen Platz an der Bar. Doch Toddy zieht das nächste Register und zitiert die polnische Bedienung herbei, um der verbal und gestisch unbeholfen auszumalen, daß er jenen zwei Damen jeweils ein Glas Porter zu spendieren entschlossen sei. Die Bedienung, des Einheimischen kaum mächtig, verzieht sich nach zwei, drei Anläufen mit Ratlosigkeit im Blick galant hinter die Theke, um das Polieren der Gläser aufs Neue anzugehen. Die beiden Damen nehmen ihre Faßbrause mit Schuß in Empfang und entrücken scheu in die Tiefe eines Gesprächs wie es Frauen unter sich führen. Toddys Mimik verrät resignierendes Einsehen in das Irrelaufen zwischenmenschlichen Verstehens und Sichverständlichmachens. Die Damen sprechen wohl nicht seine Sprache, stellt er fest. Alle Damen. Kommunikation erfordert Wahrnehmung und ein gutes Maß Fleiß darin – jenen beiden, das ist ihm jetzt bewußt, gebricht es an jeder Hingabe, an der Schlichtheit seines Lebens teilzunehmen. Wenn die sein Trachten schon mißverstehen, wie sollten sie denn die Sprache eines kalten Herdes, des leeren Kessels oder der ungewaschenen Wäsche verstehen? Die bedrückendsten Gefängnisse sind jene, deren Gitter aus Umständen bestehen. Nicht einfach für die älteren Semester, eine Sprache noch zu finden, die verbindet. Schnaubt seinen Mißmut in das olivgraue Knäuel, saugt das Verbliebene ernüchtert zurück und nimmt Starre ein. Rosen! Sowieso nicht sein Duft. Kuhdung, ja der wäre recht. Vertrauter. »Landluft, würzig«, die neue Nummer von Chanel. Und Toddy tut die neu gewonnene Einsicht kund, derzufolge niemand ihn verstehe. Willie, noch offline, holt Erkundigungen nach dem Inhalt des Zuletztgesagten ein, und Toddy repetiert artig unter merklichen Hebens seiner Stimme. Willie, unterdessen ehrlich interessiert, das Gesagte zu erfahren, erbittet eine neuerliche Rekapitulation des Beitrags und Toddy brüllt in dessen Hörgerät die Erkenntnis, daß niemand ihn verstünde, niemand, wirklich, es verstünde ihn niemand. Niemand bedürfe seiner, kein Mensch. Das niemand ihn liebe, daß er doch aber ein Recht darauf besitze so wie jedermann: John und Eoghain und Mick und Bob und –. Er hält inne, weil es sich in diesem Augenblick wohl als vielversprechend erweist, ein weiteres Mal zu schluchzen oder weil sein Vorrat an Namen versiegt ist. Er schluchzt, so wie seit Minuten etwa der Barde, der in einer dunklen Nische in sich gesunken kauernd auf eine Tischfläche starrt und sich anscheinend außerstande fühlt, die vereinbarte Gesangsdarbietung fortzusetzen, welche das Eintreten denkwürdiger Ereignisse anzuregen gefragt gewesen ist. Auch der ordert stattdessen nur ein weiteres Getränk. Willie geht online, um am Geschehen teilzuhaben, und begehrt in diesem Zusammenhang zu erfahren, was mit Belinda sei? »Ja, was ist denn mit Belinda?«, schluchzt Toddy aufs Neue. Die folge ihm nach auf allen Wegen, selbst an schlechten Tagen, setzt Willie sich nach Kräften im Sinne Belindas ein, woraufhin Toddy darauf verweist, daß alle Tage schlechte Tage seien. Alle. Wirklich alle. »Aber Belinda, Tod. Belinda! Ich verstehe Dich nicht.« »Belinda ist eine Kuh, Dad.« »Freilich ist Belinda eine Kuh. Sie gibt uns die Milch, Tod.« »Und wer kocht Porridge draus?« »Du verlangst zu viel, Tod! Einfach zu viel.« Toddy starrt trübe in das Getränk vor sich, woraufhin Willie sich unverstanden ausknipst.
Ein feiner Herr betritt die Bühne, so einer, den die Aura der großen Stadt umgibt; möglicherweise gar jemand aus dem Ausland?, jedenfalls einer, der mit seiner Erscheinung vorgibt, Erstrebenswertes erreicht zu haben. Feiner Zwirn, vornehme Manieren, akzentfreies Englisch. Unversehens Thema des eingetretenen Schweigens unter den beiden Damen an der Bar, schlägt jener elegant den Regen aus dem Mantel, hebt den nässegescheckten Hut und ordert bei der Bedienung mit geübtem Blick ein Getränk. Der könnte gut Erbe eines amerikanischen Erdölmillionärs sein, läßt das fragende Schweigen im Saal sich deuten. Auch aus dieser Gegend sollen es manche drüben zu etwas gebracht haben. Den könnte die Brautschau, eine Vorsehung oder irgendein Heiliger Geist ihnen über den Weg gesandt haben, sehe ich die Synapsen in den Köpfen der beiden Damen förmlich blitzen und die nehmen augenblicks den Kampf gegen die niederschmetternde Wirkung der irdischen Gravitation auf Gesichtszüge sowie Körperhaltung auf und bieten dem feinen Herrn mit einem Wink sowie unter Zustandebringen unechter Mienen den Platz zu ihrer Linken an. Jener dankt mit durchschauendem Schmunzeln, wählt die Nische eines Fernsehgeräts mit Pferderennen, und muß dabei wohl das Brennen von den lüsternen Blicken der Zwei in seinem Nacken spüren. Der beiden mühsam aufgebaute Grandezza überlassen sie darauf wieder der erschlaffenden Kraft der Erdschwere und geben ernüchtert eine neue Runde ihres Zaubertrunks in Auftrag. Mit einem kurzen, aber heftigen Gemütsschwall kommen die Pferde ins Ziel, und den feinen Herrn verläßt die Contenance. »Niemals wieder auf ein Pferd mit Namen ‚Parkinson'!«, brummt der. Knisternd rollt der Wettschein als Kügelchen davon in allgemeines Schweigen. So ein Schweigen, wie es in Räumen herrschen muß, aus denen die Luft herausgesaugt wird bis nichts mehr da ist, was den Schall überführen könnte. Lediglich das ungalante Röcheln, Schniefen, Schlürfen Toddys sowie das Schluchzen des depressiven Barden bezeugen von Zeit zu Zeit, daß doch noch Luft im Raum vorhanden ist. Woran es mangelt so früh am Abend ist ein Mehr an Leidenschaft. Die polnische Bedienung liest den Augenblick und schlägt in dem Bemühen um eine Beförderung der allgemeinen Gemütslage ein rotes Tuch über einen Lampenschirm, das dem Raum augenblicks hintergründiges Glühen leiht. Sie regt zum vermehrten Konsum des Aphrodisiakums an, dessen Geheimnis aber wohl allein darin zu finden ist, die Sinne für das Erkennen von Feinheiten zu verschleifen. Doch nacheinander brechen die Gäste auf; einer streift Toddys Arm auf seinem Weg zum Ausgang und bemerkt dessen Jammer. Im Hydro Hotel starte um Zehn ein Speeddating des berühmten Willie Daly – Zeit aufzubrechen, legt der ihm seinen Rat wärmstens ans Herz. Toddy brummt mißgestimmt. Willie Daly, das läßt sich leicht erkennen, hat heut Nacht wieder alle Hände voll zu tun.
Gedruckte und handfeste Bücher befänden sich mit dem Internet in einer Art Kriegszustand, meint Jim Hinks, der Digital Editor von Comma Press, einer englischen Not-For-Profit-Initiative, die sich der Veröffentlichung von Short Stories junger Autoren verschrieben hat. Und weitere Experten prognostizieren ja bereits seit Jahren für 2040 das Ende des Gedruckten. Dann bin ich mit meiner Liebe fürs Gedruckte offensichtlich in die falsche Zeit geboren? Die 1860er wären mir womöglich passender gewesen, jene Zeit, in der Brockhaus ein siebzehnbändiges Conversations-Lexikon herausgegeben hat – Sie erinnern sich? – dessen haptische Wirkung mich seit meinen Kindheitsjahren für die Faszination des Gedruckten einnimmt. Was für eine Magie von antiquarischen Büchern ausgeht! Ich möchte jedem Menschen zurufen: "Meinen Sie nicht, wirklich etwas erlebt zu haben, solange Sie das Trinity College in Dublin und dessen grandiose Bibliothek mit dem Book of Kells nicht selbst in Augenschein genommen haben!" Wer sich auf die haptische Wirkung von Papier und Leder einläßt, der wird erkennen, daß es keinen Krieg zwischen gedruckten und digitalen Büchern gibt und auch nicht geben kann. Die Faszination eines gedruckten Buches aus "Fleisch" und "Blut" ist für immer! Ich bin überzeugt, daß die Suche nach dem erfolgreichen Buch der Zukunft in die Vergangenheit führt.
Erstaunlicherweise legen die Verkaufskennziffern der Herausgeber der letzten Jahre offen, daß der Vormarsch der digitalen Bücher stagniert. Fortlaufend werden den e-Books verkaufsfördernde Ideen ersonnen, die noch mehr Interdisziplinarität und noch mehr Interaktivität versprechen, doch lassen sich die tatsächlichen Defizite des digitalen Buches gegenüber seinem gedruckten Ahnen nicht beschönigen: die Emotionslosigkeit, die Vergänglichkeit und die physische Leere. Physis und Emotion bedürfen einer materiellen Existenz, also des Haptischen. Je weiter die Welt ins Digitale vordringt, desto stärker verliert sie von ihrer Haptik. Menschen chatten und twittern, doch sind sie sich immer weniger gegenüber, um einander auch mimisch, gestisch und in Zwischentönen wahrzunehmen. Menschen bereisen ferne Orte und nehmen die in kleinen Bildern mit, doch schmecken, riechen und empfinden sie diese Orte noch? Die Geschwindigkeiten unserer Umwelt wie unserer Datenbewegungen beschleunigen fortlaufend, doch hat nicht Wahrnehmung mit dem Moment zu tun? Was nehmen wir in einer Zeit noch wahr, in der sich der Moment aufzulösen droht? Aus diesen Gründen: der Verlag Papierwerken und gedruckte und gebundene Bücher. Zum Anfassen. Zum Überallmithinnehmen. Zum Aufbewahren vor der Geschwindigkeit und der Haltlosigkeit unserer Zeit.
Das Verlagsprojekt "Papierwerken" startet als One-man-show: Idee und Bücher, Texte und Bilder, Gestaltung und Satz und der Vertrieb. Und als Verlag freilich, der richtige Bücher produzieren wird. Bücher, die man aufschlagen, spüren und ins Bücherregal stellen kann – so wie im Mittelalter. Und das selbst im – nein: ganz besonders im 21. Jahrhundert sollten Bücher nicht um eines wirtschaftlichen Ertrages hergestellt werden, aber um der Zeit und ihrer Menschen willen. Gedruckte Bücher sind nicht mehr manipulierbar, vielmehr unveränderliche, authentische Zeugnisse ihrer Zeit. Was wüßten wir heute über das Mittelalter, wenn uns über diese Vergangenheit per Dateien übermittelt worden wäre? Dateien, die durch jede Herrscherdoktrin und jeden Zeitgeschmack verändert worden wären. Wir wüßten nichts. Und zumindest fortschrittliche Medien stempeln unsere Gegenwart ja bereits als post-truth-era ab, womit sie nichts anderes mitteilen, als das wir des Gedruckten bedürfen.
Die Bücher von Papierwerken wird es geben, trotz oder gerade weil die bei den Wirtschaftlichkeitsanalysen wohl so nicht bestehen könnten. Papierwerken wird keine Bücher verlegen, um irgendwelchen Trends zu folgen und keine Bücher, die um irgendeiner Wirtschaftlichkeit willen in sein müssen. Bücher von Papierwerken sollen aus ihrer Zeit sprechen. So soll Papierwerken auch ein kleiner Triumph der Unabhängigkeit sein.
Comma Press begann 2003 als Projekt von Künstlern, die frei von kommerziellem Druck die Herausforderung der etablierten Verlage wagen wollten. Und Comma Press ist erfolgreich und preisgekrönt, gerade weil es den eigenen Weg geht. Auch Papierwerken wird einen eigenen Weg gehen.
Hans Jörg Rafalski betrachtet in "Erosion - Spuren der Industriekultur im Finowtal" erzählerisch und in atmosphärischen Bildern auf 96 Seiten die großartige Vergangenheit des bedeutendsten historischen Industriestandortes der Mark Brandenburg sowie das, was in der Gegenwart davon noch nachvollziehbar ist. Die hinterbliebenen Zeugnisse sind seit 1990 der Erosion überlassen und so bewahrt das Buch eine Momentaufnahme des Vergehens und versucht, die Größe des kulturhistorischen Verlustes zu ermessen. Der Industriestandort wird dabei durch die Perspektive der acht Elemente, die dessen Entwicklung bestimmten, beleuchtet, um ein- und denselben Ort in seinen Facetten sichtbar zu machen. Der Autor verarbeitet in dem Buch auch die eigene Familiengeschichte, die eng mit der Geschichte der Eisengießereien im Finowtal verbunden ist. Das Buch ist ausschließlich gedruckt erhältlich.
Erosion - Spuren der Industriekultur im Finowtal
von Hans Jörg Rafalski
Hardcover mit 96 Seiten im Format 31,7 x 23,0 cm
mit 48 großformatigen Fotografien und 1 Übersichtskarte
Kurztitel: Erosion
ISBN 978-3-00-054747-8
Einzelpreis: 34 Euro
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